Alles auf Start!

overscroll-thumbSchon mal davon gehört, dass Menschen ein Sack über den Kopf gestreift wird, damit sie die Orientierung verlieren? Eine beliebte Entführungstechnik, der sich seit einiger Zeit sueddeutsche.de und neuerdings auch spiegel.de bedienen.

Wenn man das Ende einer Artikelseite erreicht und mit zuviel Schwung gescrollt hat, wird man automatisch auf die Startseite geleitet:

overscroll-sz

Der Nutzer hat zunächst keine Ahnung, wie er dahin gekommen ist.
Hier könnt Ihr das ausprobieren.

Die Süddeutsche hat’s vorgemacht, dann hat der Spiegel das auch für sich entdeckt. Da man es nicht nötig hat, die Konkurrenz aus München nachzumachen, sieht das natürlich ein bisschen anders aus:

overscroll-spiegel.gif

 

Hintergrund ist wohl, dass die Startseiten mit mehr Traffic versorgt werden sollen, weil dieser sich dort besser vermarkten lässt. Es darf bezweifelt werden, dass das im Sinne der Nutzer ist.

Das Ganze ist schon fast ein so genanntes »Dark Pattern«: Der User soll hereingelegt werden, soll sich so verhalten, wie er es nie beabsichtigt hat.

Ob Scrollrad an der Maus oder Touchscreen – wir scrollen, um uns einen Überblick zu verschaffen. Nutzer bewegen sich an das Ende einer Seite, um abzuschätzen, wie umfangreich der Artikel ist. Hier fällt dann die Entscheidung, ob sie ihn jetzt lesen können oder es auf später verschieben müssen.

Texte werden überflogen, auf Zwischenüberschriften abgesucht, Absätze kurz quergelesen. Das alles passiert, weil sich User ein Urteil bilden wollen, ob der Text die Investition Lesen wert ist. Scrollen ist dabei der ultimative Helfer und gefühlt kaum noch Interaction Cost für die Nutzer.

Schnell mal runter, gucken, und dann zum Lesen wieder hoch. Nicht unüblich beim lesenden Internetvolk. Das verlässt sich darauf, dass die Maus unten an der Seite anschlägt.

Jetzt kommen Süddeutsche und Spiegel daher, packen den geneigten Leser im Genick und schmeißen ihn auf die Startseite.

Das Leiden ist so stark, dass es schon inoffizielle Skripte gibt, die dieses komische Verhalten unterdrücken sollen.

Ich weiß nicht, wann genau die beiden diese Unsitte eingeführt haben, aber ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass sich dieses UX-Verbrechen nicht mal in Sachen Traffic auszahlt:

 

Startseitentraffic-Desktop

Unterm Strich haben die beiden großen deutschen Nachrichtenseiten jetzt einen fetten UX-Bolzen im Gepäck, der nichts bringt: Trafficanteil der Startseite auf Vorjahresniveau, bei SZ sogar etwas darunter.

Oder aber man sieht den Effekt nicht, weil die Zugriffe auf die Artikelseiten in gleichem Maße gestiegen sind. Denn das Hereinlegen der User hört beim Projekt »Startseitenteleportation« nicht auf:

sz-start

»Ja, na und? Ein Button, der zur Startseite führt! Wenigstens muss man da explizit draufklicken, statt dass man einfach dort hingebeamt wird.«, mag man jetzt sagen.

Warum das auch böse ist?

Nun, in unserem Kulturkreis lesen wir von links nach rechts. »Zurück zum Anfang« oder »Start« verbinden die meisten mit Links. »Home« ist meist der erste Navigationspunkt in Menüs, wenn sie horizontal sind, sogar der linke. Das Logo einer Website, das den User normalerweise zur Startseite führt, sitzt in fast 100 Prozent der Fälle oben links auf einer Seite.

Warum also richtet die Süddeutsche auf ihrer Website den Button »Zur Startseite« rechts aus und lässt auch noch einen kleinen Pfeil nach rechts zeigen, obwohl die Startseite im Mentalen Modell der meisten Nutzer links vom aktuellen Inhalt liegt? Damit möglichst viele drauf klicken!

An exakt derselben Stelle steht nämlich normalerweise ein Button, der zur nächsten Seite eines Artikels führt:

sz-next

Viele regelmäßige SZ-Leser dürften sich inzwischen daran gewöhnt haben, dass längere Beiträge aufgeteilt werden, um auch hier eine zusätzliche IVW-Impression zu schinden. Die klicken sehr wahrscheinlich auch dann auf diesen roten Knopf, wenn dieser nicht zur vermeintlichen Fortsetzung führt, sondern zur Startseite – ohne es zu merken.

Der »zur Startseite«-Knopf steht sogar noch oberhalb der Linkliste zu den Artikelteilen, obwohl er logischerweise unter dem letzten Eintrag stehen müsste – aber dann könnte der User ihn womöglich vom »nächste Seite«-Button unterscheiden …

Auch hier macht spiegel.de übrigens wieder mit: »Zur Startseite« steht bei den Hamburgern auch rechts, obwohl der entsprechende Punkt in der Hauptnavigation ganz links steht (und dort übrigens »Home« heißt – Inkonsistenz muss sein …):

Bildschirmfoto 2015-12-21 um 21.11.54

So, wie nun also das Ganze verbessern? Zum Overscroll-Redirect lautet die Empfehlung: Ersatzlos streichen! Gebt den Usern die Kontrolle zurück, die Startseite aufzusuchen, wann immer sie es wollen!

Unter einem Artikel einen Link zur Startseite anzubieten, ist nicht per se schlecht. Es gibt ja User, die dafür nicht wieder nach oben scrollen möchten. Dann lasst den Button aber bitte auch in die Richtung zeigen, wo sich die Startseite im Kopf des Users befindet und wo sie nicht mit einem »Weiter«-Button verwechselt werden kann: Nach links!

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Wie wichtig sueddeutsche.de der Traffic auf der Startseite ist, sieht man übrigens auch an dem kleinen Indikator in der Hauptnavigation. Der zeigt dem Nutzer an, dass die Startseite jetzt aktualisiert wurde:

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Im Prinzip ganz praktisch, aber die Anmutung der Bubble ist fragwürdig: Kopiert wird die Optik, die man aus persönlichen Benachrichtigungen kennt, von seinen Mails, von Facebook oder aber von seinem Smartphone. Hier wird das Bedürfnis ausgenutzt, die Benachrichtigungsbubble »wegmachen« zu wollen, so wie man ungelesene E-Mails abarbeiten will. Nicht tragisch, aber passend zur aktuellen Startseitenverzweiflung bei SZ & Co.

Wie man es seriöser machen kann, zeigt übrigens zeit.de. Dort gibt es einen Hilfslink zum schnellen Sprung nach oben statt einer Zwangseinweisung auf die Startseite:

Bildschirmfoto 2015-12-21 um 22.13.06

Und unter dem Artikel der Verweis auf die Startseite da, wo er hingehört: links.

Bildschirmfoto 2015-12-21 um 22.13.23

Wenn die Kollegen jetzt nur noch den Pfeil umdrehen, wird alles gut. :-)

 

Anmerkung: Wenn jemand verlässliche Informationen hat, wann genau sueddeutsche.de oder spiegel.de den Overscroll in Betrieb genommen haben, würde ich mich über eine kurze Nachricht freuen. Dann könnte ich die IVW-Zahlen besser interpretieren.

Disclaimer: Ja, ich stehe derzeit bei einem Holtzbrinck-Unternehmen in Lohn und Brot. Den Internetauftritt der Zeit habe ich aber nur deshalb hier erwähnt, weil die Kollegen als redaktionelles Portal mit ähnlicher Bedeutung nicht so unfair gegenüber ihren Usern sind, was den Startseitenschmu betrifft. Alle anderen Webseiten, die es ähnlich machen wie zeit.de: Ihr rockt auch!

2 Gedanken zu „Alles auf Start!

  1. Ich lese gerne die süddeutsche und mit ist das Verhalten Mitte Juli aufgefallen (2015 versteht sich). Ich hoffe, die Info hilft weiter.

  2. Overscroll ist einfach nur zum KOTZEN. Habe Websites, die es verwenden, aus meinen Bookmarks verbannt. Populärstes Opfer bei mir: Spiegel Online.

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