So schnell der ICE der Deutschen Bahn auch unterwegs ist – auf die Toilette muss während der Fahrt wahrscheinlich jeder mal. Die meisten Kabinen in den neueren Zügen sind behindertengerecht – aber nur, was das reine Platzangebot betrifft. Bezogen auf das Bedienkonzept der Tür haben sowohl Behinderte wie Nichtbehinderte ihre Schwierigkeiten.
Vor einiger Zeit durfte ich erleben, welche Auswirkungen ein, sagen wir mal, nicht ganz zu Ende gedachtes Bedienkonzept haben kann. »Schlechte User Experience« ist da noch milde ausgedrückt, was die ältere Dame im ICE von München nach Berlin erleben musste.
Aber lest selbst – hier ein Auszug aus meinem Schreiben an die Konzernsprecherin der Bahn:
Sehr geehrte Frau Pörner,
Ich schreibe im Namen einer älteren Dame, die sich sehr entwürdigt fühlte, als sie die Toilette in Ihrem ICE benutzte.
Hier eine kurze Zusammenfassung: Neulich suchte ich im ICE von München nach Berlin die Toilette auf, und zwar die behindertengerechte Version. Als sich die Tür öffnete, musste ich feststellen, dass diese schon besetzt war. Noch mehr erschrocken hatte sich aber die ältere Dame, die gerade auf der Toilette saß.
Während ich mich umdrehte und versuchte, dem halben Dutzend Bundeswehrsoldaten im Gang den Blick auf die Frau zu versperren, erklärte ich der Dame, dass sie doch auch den Knopf zum Verriegeln der Tür drücken müsse.
»Ich hab‘ doch gedrückt, ich hab‘ doch gedrückt!«, rief die verzweifelte Frau mehrmals, während sich die breite Schiebetür aus ihrer Sicht viel zu langsam wieder schloss: Ich hatte für die Dame wieder auf den Schließen-Knopf gedrückt.
Die Ursache dieser für alle Beteiligten peinlichen Situation liegt in der komplizierten Bedienung: Wie Sie Abbildung A entnehmen können, ist der Vorgang des Tür-schließen-und-verriegelns auf zwei Knöpfe aufgeteilt: Der Benutzer muss zunächst auf »SCHLIESSEN« drücken, dann verstehen, was mit dem roten Blinklicht gemeint ist und anschließend auch noch herausfinden, dass er auf den Button »BEI BLINKLICHT BITTE VERRIEGELN« drücken muss und nicht auf das Blinklicht selbst.
Abb. ADas ist zuviel für Gelegenheitsnutzer wie die alte Dame, und es darf bezweifelt werden, dass auch sämtliche Behinderte dieses Konzept der vielen Schritte verstehen.
…
Über eine kurze Begründung, warum die Funktionsweise der behindertengerechten Toilette so ist, wie wir Reisende sie im Moment erleben, würde mich sehr freuen.
Vielen Dank im Voraus und herzliche Grüße
Steffen Kastner
Der Brief enthielt noch einen Vorschlag von mir, wie die Zwei-Knopf-Bedienung besser hätte umgesetzt werden können, doch auch der ging etwas an den Vorgaben der Realität vorbei, wie die Antwort der Bahn zeigte, die mich keine zwei Wochen später erreichte:
Die von Ihnen vorgeschlagene Lösung – eine Taste für gleichzeitiges Schließen und Verriegeln – ist leider nicht praxistauglich. Aufgrund der langsam schließenden Türen der Behindertentoiletten können sie durch Betätigen der Taste von außen verriegelt werden – die Toilette wäre somit blockiert. Daher ist das Verriegeln erst nach dem Schließvorgang möglich.
Mit anderen Worten: Damit niemand die Tür schließen und dann schnell hinausspringen kann, muss das Verriegeln als zweiter Schritt erfolgen. Nämlich dann, wenn auch ganz sicher jemand drin ist.
Das Ganze hat sich im Frühjahr 2014 abgespielt, und ich habe die Geschichte zunächst zurückgelegt. Ich wollte sie erst für einen Blogbeitrag verwenden, wenn mir eine einfache Lösung dafür eingefallen war.
Eine zufriedenstellender Einfall ließ jedoch auf sich warten. ich hatte wohl auch etwas wenig Zeit, mich mit der angemessenen Intensität dem Thema zu widmen.
Mein Freund und Kollege Fabrice hatte schließlich die Idee, doch beim UX Monday die Profis um Ideen zu bitten. Und so beschäftigten sich Anfang November 2015 ca. 60 UX-Professionals mit dem Problem – im Rahmen eines üppigen Workshops mit geballter UX-Power aus München und Umgebung.
Die Vorgabe lautete:
Designe ein Verriegelungssystem für eine behindertengerechte Toilette!
Dabei galten die folgenden Einschränkungen:
- Die Toilette verriegelt sich nur, wenn sich jemand darin befindet.
Um Schabernack durch pubertierende oder angetrunkene Reisende vorzubeugen, darf die Tür nur verriegelt werden, wenn die Toilette auch von jemandem benutzt wird. - Zur Bedienung sind nur Knöpfe zugelassen.
Große Knöpfe sind von den meisten Behinderten am leichtesten zu bedienen. Intuitivere Verriegelungen wie Hebel oder Drehschalter sind für Menschen mit eingeschränkter Motorik eventuell schwerer zu handhaben. - Keine »Lange-Drücken-Lösung«
Ältere oder beispielsweise Menschen mit Multipler Sklerose haben mitunter nicht die Kraft oder Koordination, einen Knopf gedrückt zu halten, bis die Tür verschlossen ist. - Der Status ist zu jedem Zeitpunkt eindeutig erkennbar.
Benutzer müssen eindeutig erkennen, ob die Toilette jetzt verriegelt ist oder nicht.
Und los ging’s:
Ergebnis des gestrigen #uxmondaymuc: die @DB_Bahn bekommt OBS-One Button Solutions für das #dbtoiletproblem.@ajmwoodpic.twitter.com/9h3v4SIWbY
— Virtual Identity AG (@virtualidentity) November 3, 2015
Gut gefallen hat mir die Lösung von Dominiks Gruppe: Ein-Knopf-Lösung mit Drucksensoren, die zumindest die Anwesenheit eines Objektes mit gravitationsbedingtem Druck auf eine Unterlage sicherstellt:
In Kombination mit einem Bewegungsmelder könnte man da sicher ein zuverlässiges System zimmern.
Auf den Bewegungsmelder kam auch das Team von Andreas und seinen Mitstreitern:
Falls es doch mal einem flüchtenden Scherzkeks gelingt, die Toilette zu blockieren, soll eine verplombte Notfallentriegelung dem Zugpersonal das erneute Freischalten der Toilette ermöglichen.
Das Team von Anja würde eine Lichtschranke zur Schabernackprävention einsetzen:
Viele Gruppen hielten die One-Button-Lösung für erstrebenswert, Dominik & Co. haben sich aber auch noch um eine Mehrknopflösung bemüht, die wesentlich intuitiver sein dürfte als die jetzige:
So ein ICE kostet wohl über 30 Millionen Euro. Da scheint es erschwinglich, in die Toiletten unmissverständliche Touchscreens einzubauen, dachten sich wohl Jens und sein Team:
Diese Idee habe ich mal aufgegriffen, um einen Vorschlag für eine solche Touchscreen-Steuerung zu machen:
Zusammen mit Fabrice habe ich diese Simulation per UX Pin auf einem iPad mit mehreren Probanden getestet, unter anderem auch mit einem Behinderten mit stark eingeschränkter Motorik. Alle haben es auf Anhieb verstanden, konnten es bedienen und haben exakt den Augenblick identifiziert, in dem sie theoretisch mit ihrem Geschäft beginnen könnten …
Anmerkung: Es scheint extrem schwer zu sein, Infos zu behindertengerechten Bedienelementen zu finden. Dokumentationen kümmern sich meist um ganzheitliche Konzepte, aber man findet kaum eine Übersicht oder Empfehlungen, welche Art von Button die meisten Behinderten bedienen können oder ob ein Touchscreen für den Einsatz geeignet ist. Wer also einen Hinweis auf eine ergiebige Quelle hierzu hat – bitte per Twitter DM an @steffenk71. Danke! :-)
Ein Touchscreen würde auch das sprachliche Problem lösen, welches Fahrgäste haben die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Als erster Screen sollte eine Sprachauswahl in Form von Flaggen mit der jeweiligen Sprache – in der jeweiligen Sprache – sein.